Natürlich, Meister.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, streckte der kristallblaue, glänzende Drache seine großen Flügel zum Abflug aus. Als Beauftragter hatte es Junlong nicht einfach. Dennoch tat er alles, um seinem Meister treu zu bleiben. Der Drache schlug kräftig mit den Flügeln und hob ab. Die kaum sichtbare Steinhöhle verschloss sich langsam und unbemerkt hinter ihm, als er in den nächtlichen Himmel aufstieg. Junlongs lange, mit kleinen Diamanten geschmückte Flügel bewegten sich auf und ab, immer höher ging es in den Himmel und tiefer in das große Unbekannte. In das Abenteuer, welches ihn erwartete. Der Drache wusste, die Aufgabe, die er zu bewältigen hatte, würde nicht so einfach sein wie die vorherigen. Doch Junlong war sich sicher, dass er kämpfen würde. Auch wenn dies seinen kalten Tod bedeuten sollte.
Die Sterne waren klar zu erkennen, der Vollmond schien hell. Der majestätische Körper des riesigen Drachen flog über den Wolken in vollkommener Ruhe. Leises, beruhigendes Schnaufen verließ Junlongs Schnauze und erzeugte kleine Rauchwölkchen, die auf ihre Art und Weise Wärme und Geborgenheit ausstrahlten.

„Li Hua. Rette sie. Um jeden Preis“, hatte der kleinwüchsige Meister leise gesprochen, während seine Hand mittig auf Junlongs riesige Schnauze geruht hatte. Der Drache schaute ihn aus seinen schmalen, scharfen Augen an und gab ein kaum erkennbares Nicken von sich. Vereinzelte Bilder von Li Hua traten vor sein inneres Auge. Das mittellange schwarze Haar. Die pechschwarzen, mandelförmigen Augen. Die blutroten Lippen. Die spitzen Ohren. Der kastanienbraune Hautton. Die Ruhe ausstrahlende und geheimnisvolle Aura. Alles an dieser außergewöhnlichen Elfe war atemberaubend und einzigartig. Doch dies erklärte nicht, wieso sie auf mysteriöse Art und Weise verschwunden war. Alle im Dorf liebten sie für ihre hilfsbereite und einzigartige Persönlichkeit. Aber niemand konnte sich einen Reim darauf machen, wieso jemand sie entführen haben sollte. Alleine verschwunden konnte sie nicht sein, sie hätte wenigstens eine Nachricht hinterlassen.
Nicht lange hatte es gedauert, bis der Meister, der mit Junlong in einer abgelegenen Steinhöhle lebte, davon erfahren hatte. Als er noch wie einer von ihnen gewesen war, hatte er Li Hua gekannt. Nein, er hatte sie nicht nur gekannt. Sie war seine Tochter gewesen.
Bis er aufgrund des Mordes an einem Drachen aus dem Dorf verjagt worden war. Nur Junlong kannte die Wahrheit. Der Drache, der für tot gehalten wurde. Der Drache, der sich nicht zeigen durfte, bis man es ihm befahl.
Und bis dahin würde er treu seinem Meister dienen, der damals sein Leben gerettet hatte.

Bei Tagesanbruch machte der blaue Drache eine Pause, um sich ein wenig zu erholen. Junlong landete behutsam und leise neben einem riesigen See in einem dichten Wald. Wegen der hohen Bäume konnte er sich nur eingeschränkt bewegen. Zweige brachen unter seinen Füßen, Blätter und Äste raschelten.
Schnaubend ließ Junlong seine Schnauze in das kalte Wasser sinken und trank großzügige Schlucke. Ein Reh zum Fressen brauchte er noch nicht, seine letzte Mahlzeit war erst letzte Nacht gewesen, als er sich auf die lange Reise vorbereitet hatte.
Als der Drache weiterfliegen wollte, um zum Berg des Schicksals zu kommen, hörte er ein eigenartiges, herzzerreißendes Geräusch und spitzte die Ohren. Junlong schärfte seine Sinne, wie der Meister es ihn gelehrt hatte.
Er hörte auf seinen Atem, schloss die Augen und wurde zur Ruhe selbst. Vorsichtig und langsam richtete er sich auf und achtete auf die kleinsten Geräusche, die in seine Ohren drangen. Raschelnde Blätter, zwitschernde Vögel, Rehe, die durch den Wald liefen. Ja, sogar die leisesten Schritte der Käfer konnte er wahrnehmen. Junlong wartete ab, bis er dasselbe Geräusch wieder zu hören bekam.
Plötzlich wusste er, von wo es kam. Rasch, aber dennoch vorsichtig, drehte sich der riesige Drache um und blickte durch seine scharfen Augen in die Tiefen des Waldes hinein. Eine Bewegung ließ sich zwischen den hohen, dichten Bäumen ausmachen. Leise schnaufend linste der Drache zwischen den braunen, mit Moos bewachsenen Baumstämmen hindurch. Er war viel zu groß, um zwischen den Bäumen hindurchpassen zu können. Es war nicht das erste Mal, dass Junlong seine enorme Größe verfluchte. Er konzentrierte sich wieder auf das Geräusch. Ein Wimmern. Es war leises, kaum hörbares Wimmern.
Langsam traute sich der Drache einen Schritt weiterzugehen. Seine Füße mussten einige Büsche niedertrampeln, doch wichtiger war das Wimmern, das er hörte. Es kam ihm bekannt vor. Junlong gab ein lautes Schnaufen von sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Er wusste, entweder so oder gar nicht würde er das Gesicht, das sich weinend versteckte, zu sehen bekommen. Plötzlich hörte das Wimmern auf, etwas bewegte sich und einige Blätter raschelten. Völlig unvorbereitet machte Junlong einen kleinen Schritt nach hinten. Er war kein ängstlicher Drache. Er bot dem unbekannten Wesen nur mehr Raum an, um ihm zu zeigen, dass er ungefährlich war.

Bevor der Drache über etwas anderes nachdenken konnte, kam eine atemberaubend schöne Elfe hinter den Bäumen hervor.
Ihr tränenverschmiertes Gesicht strahlte eine unnatürlich beruhigende Aura aus. Die schwarzen, zu einem lockeren Dutt gemachten Haare schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne. Die dunklen Augen zeigten einen verzweifelten, verschreckten Ausdruck und ließen den riesigen, kristallblauen Drachen Mitleid verspüren. Wie vom Blitz getroffen riss Junlong die schmalen Augen auf und fokussierte die Elfe vor sich. Auch sie schaute den Drachen völlig überfordert und mit großem Erstaunen an.
Niemals, schoss es Junlong durch den Kopf.
Doch das war sie. Er hatte sie noch genau in Erinnerung. Dieselben Augen. Dieselben Lippen. Dieselbe dunkle Hautfarbe. Dasselbe Gesicht. Alles war genau gleich. Nur mit diesem Gesichtsausdruck, weinend, hatte er sie noch nie zuvor gesehen. Sie trug eine mittelalterliche, hellbraune Hose und schwarze, vom Matsch verdreckte Stiefel. Ihre kurzärmlige Tunika in einem verschmutzten Gelb ließ sie in Junlongs Augen nur noch schöner aussehen, als sie sowieso schon war.
Auch sie erkannte ihn wieder. Li Hua konnte kaum glauben, wen sie vor sich sah. Seit Jahren hatte sie geglaubt, der Drache sei tot. Sie war furchtbar enttäuscht von ihrem Vater gewesen, auch wenn sie tief im Inneren wusste, dass ihr Vater niemals grundlos ein gutartiges Wesen wie Junlong getötet hätte. Jedoch wurde sie von den Gerüchten und Lügen des Volkes geblendet und glaubte der Mehrheit. Die Mehrheit, die der Meinung war, der Diamantendrache wäre vom Meister getötet worden. Doch er stand vor ihr, lebendig und im aufgehenden Sonnenlicht glitzernd.
„Junlong“, flüsterte sie. Noch immer überrascht schritt das Mädchen zu ihm.
Der Drache beugte sich vor, um mit dem Mädchen ungefähr auf Augenhöhe zu sein. Langsam streckte sie ihre Hand aus und berührte seine riesige Schnauze. Das Schnaufen des Drachen war nicht zu überhören. Junlong schaute das Mädchen genauer an, als wäre er sich nicht sicher, ob er nur träumte oder ob dies wirklich die Realität war. Doch tief im Inneren wusste er, Li Hua stand vor ihm und das ließ sein Herz schneller schlagen. Er beäugte die Tochter seines Meisters und wartete ab, dass sie den nächsten Schritt tat und weitersprach.
„Du bist am Leben, Junlong.“
In solchen Momenten wünschte sich der Drache mehr als alles andere, mit jemandem außer seinem Meister reden zu können. Doch egal wie sehr er es sich erhoffte, von ihm kam nur ein weiteres Schnaufen.
„Bitte, Junlong, sag mir, ist Vater am Leben?“
Das riesige Wesen nickte zur Antwort, was das Mädchen zu erleichtern schien. Li Hua wischte sich die Tränen mit bloßen Händen weg. Ihr Gesicht entspannte sich und sie setzte das bekannte Lächeln auf.
Gerade als Junlong durch den Kopf ging, dass sein Auftrag gar nicht so schwer gewesen war, wie er gedacht hatte, ertönte ein lautes, ohrenbetäubendes Brüllen aus dem Tiefen des Waldes. Ein rotes Wesen schoss mit einer rasanten Geschwindigkeit hinter den Bäumen hervor und in die Höhe.

Sowohl Junlong als auch Li Hua schauten rasch nach oben und schnappten nach Luft. Das Wesen, ein teuflisch aussehender Muskelkörper, ließ sich über den hohen Bäumen ausmachen. Das rotgelbe Sonnenlicht bot einen passenden, furchteinflößenden Anblick. Instinktiv stellte sich Li Hua hinter eines der Beine Junlongs, um sich zu schützen. Sie war zwar eine ausgezeichnete Kämpferin, doch sie wusste, das Wesen über ihnen würde sich alles nehmen, was es wollte. Und es wollte sie. Ihr Herz raste, ihre Atmung beschleunigte sich. Ihre Tränen drohten über ihre Wangen zu rollen.
Denn das war ihr Entführer. Der, der sie monatelang festgehalten und gefoltert hatte. Der, vor dem sie unheimliche Angst hatte.
Als Junlong bemerkte, dass sich die Tochter seines Meisters fürchtete, wusste er, dass sie zumindest ahnte, wen sie vor sich hatten.
Also richtete er sich auf und stieß ein Brüllen aus – lauter denn je. Der Zorn in seinen Augen war nicht zu übersehen. Sein Schrei erklang im ganzen Wald, sodass jegliche Vögel und andere Tiere schleunigst und verschreckt das Weite suchten.
Niemand tut Li Hua etwas an, dachte er.
Das Wesen mit den zwei Hörnern, die aus seinem dunkelroten Kopf ragten, schaute abfällig auf den Drachen. Doch dann fiel sein Blick auf die Elfe.
„Li Hua, du hast es gewagt, zu fliehen. Du hast es gewagt, die Regeln meines Reiches zu brechen. Nun wirst du für deine abscheuliche Tat büßen“, zischte das Unwesen mit fürchterlich tiefer Stimme.
Die Elfe schritt weiter zurück und schaute verängstigt hoch. Der Drache bemerkte, wie stark sie zitterte.
Auf einmal streckte Junlong mit einem weiteren Brüllen seine Flügel aus und hob mit großer Kraft ab. Kaum dass der tiefblaue Drache auf Augenhöhe war, schoss das rotbraune Unwesen auf Li Hua hinunter. Junlong breitete die Flügel aus, soweit es ging, und folgte ihm sofort.
Doch was dann geschah, brachte in ihm unglaubliche Schuldgefühle hervor. Das Unwesen flog direkt auf Li Hua zu, die zwar flink auswich, doch nicht schnell genug war. Seine Fußkrallen bohrten sich in ihre linke Schulter. Schmerzerfüllt schrie Li Hua auf und versuchte sich aus dem Griff zu befreien, aber ohne Erfolg. Junlong holte mit seinem Schwanz aus und stieß das Unwesen in die Ferne, jedoch riss dieser die Elfe mit sich fort.
Beide wurden durch die Luft geschleudert und das nutzte das rotbraune Wesen aus und hob rasch ab. Mit Li Hua in den Klauen.
Nein!, dachte er. Doch zu spät.
Der Drache folgte den beiden mit rasender Geschwindigkeit. Als er sich über dem Wald befand, streckte Junlong seine Flügel gänzlich aus und wollte sich Li Hua mit einem wütenden Brüllen schnappen. Doch auf einmal löste sich das Unwesen in einer schwarzen Wolke auf. Mit der Elfe zusammen. Es schien, als wären sie ausgelöscht worden.
Der Drache blieb alleine zurück. Doch er wusste, er würde nicht zu seinem Meister zurückkehren ohne Li Hua.
Denn das war er ihm schuldig.
Douaa Malahefji, J1 (Schuljahr 2023/2024)