Hin und her schwankend segelte das Schiff nachts auf dem weiten Meer. Der Sturmwind wurde immer stärker. Die Matrosen wussten, ein Unwetter, größer denn je, würde sie heimsuchen. Colin, ein 23-jähriger Seemann, hoffte inständig auf eine heile Ankunft am Hafen. Nach fast drei Jahren auf dem Wasser sehnte er sich wieder nach festem Boden unter den Füßen. Plötzlich spürte er einen Wassertropen auf seiner Nasenspitze. Er verzog launisch das Gesicht. Den Regen konnte er auf den Tod nicht ausstehen.
„Land in Sicht!“, rief Johnny auf einmal.
Sofort vergingen Colins negative Gedanken und er seufzte erleichtert auf. Doch wie aus dem Nichts ruckelte das Schiff stark nach hinten, sodass der junge Mann ohne jeglichen Halt auf die harten Holzdielen fiel. Gereizt und fluchend wollte er wieder aufstehen, doch das Schiff machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Es schwankte wieder nach vorn, sodass Colin nach Luft schnappend über die Dielen rutschte. Seine Hand streckte er nach etwas aus, um sich festzuhalten. Schließlich bekam er das Geländer zu fassen und richtete sich mühsam auf. Das Schiff schaukelte weiterhin. Der Himmel schien trüber zu sein als sonst, aber vielleicht lag das auch einfach an der Stimmung des Matrosen.
Der Wind ließ nicht nach, der Regen wurde stärker. Ein Sturm erwachte zum Leben.
Anders als Colin würden sich die meisten Matrosen über das heftige Unwetter freuen, denn nur so konnten sie ihren Mut unter Beweis stellen. Doch diesmal nagt fürchterliche Angst an ihnen. Sie spürten regelrecht, wie sich das Meer aufbrauste und wütender zu werden schien. Die Wellen wurden immer größer und Colin konnte nur hoffen, rechtzeitig die Insel zu erreichen, die Johnny einige Momente zuvor erblickt hatte.
Obwohl das Gebrüll des Kapitäns immer lauter zu werden schien, konnte die Besatzung nur erraten, was sie tun sollten.
Hiroto, ein aus Japan ausgewanderter Matrose, kam neben Colin zum Stehen.
Beide hielten sich mühsam fest.
„Ob wir das wohl überleben?“, sprach der Japaner in fließendem Englisch.
Colin machte eine verständnislose Geste. Aufgrund des ohrenbetäubenden Plätschern der Wellen konnte er den langjährigen Freund nicht verstehen, woraufhin Hiroto das Gesagte mit lauter Stimme wiederholte.
„Ich weiß nicht.“ Colin richtete seinen Blick auf das Wasser und schaute in die Ferne. Die schwarzen, vom Regen durchnässten Haare klebten an seiner Stirn. „Aber wir müssen zusammenhalten. Die Welle ist groß, doch wir sind größer.“
Als der junge Matrose seine Tante, die ihn liebevoll großgezogen hatte, zitierte, musste er unwillkürlich an sie denken. Was mit ihr wohl passiert sein mochte? Er hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen und hoffte, dass sie wohlauf war.
Der schwarzäugige Japaner seufzte nur müde.
Eine heftige Welle überfiel das Schiff und die Matrosen schrien haltsuchend auf. Über ihnen blitzte und donnerte es. Von Todesangst überwältigt, konnten sie nicht mehr den Anweisungen ihres Oberhaupts folgen. Rasch versuchten die zwei Freunde ihre Kameraden zu beruhigen, doch der Wind trug ihre Worte mit sich fort. Die von Johnny gesichtete Insel kam Colin wieder in den Sinn. Er versuchte den Mastaffen im Chaos ausfindig zu machen, doch er sah ihn nirgendwo.
Schließlich bemerkte Colin, wie Johnny hilflos versuchte, sich am Schiffsmast festzuhalten. Was machte er denn noch da oben? Er müsste doch längst wieder hinuntergeklettert sein! Das Schiff schwankte zu stark hin und her, sodass der gerade mal 19-Jährige immer wieder drohte, runterzufallen. Durch das Schwanken konnte der Matrose sich nicht mehr festhalten und wurde plötzlich vom Mast gerissen und Richtung Meer geschleudert.
Colin riss erschrocken die Augen auf. „NEIN!“
Doch zu spät. Johnny war bereits außer Reichweite und landete unsanft im Wasser. Atemlos schrie er nach Hilfe, strampelte aus Verzweiflung. Sein Gesichtsausdruck war panisch, er flehte regelrecht um Gnade und um sein Leben.
Aufgrund der tobenden Wellen konnte sich die Mannschaft jedoch nicht an ihn heranwagen. Seine Kameraden konnten nur mitansehen, wie ihr Freund auf- und abtauchte und schließlich ganz von den riesigen Wellen verschluckt wurde. Niemand traute sich ein Wort über die Lippen zu bringen. Zu tief lag der Schock in ihnen.

Nur Hiroto wurde abrupt panisch. Er schrie, krümmte sich, verdeckte sein Gesicht mit den Händen und weinte bitterlich. Er ließ den heißen Tränen freien Lauf und blendete die Außenwelt aus. Johnny war vom ersten Tag an ein treuer Freund für ihn gewesen. Und nun war er weg. Wie ausgelöscht.
Colin und die restliche Besatzung starrten wie gebannt auf den Fleck, wo ihr Freund einige Augenblicke zuvor um sein Leben kämpfte, als würden sie darauf hoffen, dass er wieder auftauchte. Doch er kam nicht.
Viel Zeit zum Trauern blieb den Matrosen jedoch nicht mehr. Sie mussten sich weiterhin gegen den bestialischen Sturm wehren.
Die Insel kam näher und der Tag rückte an. Neuer Mut fasste die Matrosen und ihre untröstliche Lage schien wieder hoffnungsvoll. Sogar der Sturm zeigte Gnade und ließ langsam nach.
Plötzlich rief ein Seemann entsetzt: „Ein Bruch!“ Colin seufzte auf. Das Schiff gab quietschende Geräusche von sich. Die Matrosen hatten es nicht nur mit einem Bruch zu tun, sondern mit Dutzenden.
Der Kapitän erkannte seine Lage: Das Schiff würde unmittelbar zusammenbrechen.
„Alle Mann runter von Bord!“
Hastig sprangen alle ins eisig kalte Wasser. Die Wellen hatten längst nachgelassen, weshalb sie zur Insel hinüberschwimmen konnte. Als die Matrosen nacheinander auf dem Land ankamen, legten sie sich sogleich erschöpft in den Sand. Auch Colin erreichte die Insel und blickte zum Schiff hinüber. Das Wrack brach vor seinen Augen wie ein Kartenhaus zusammen und versank spurlos im Wasser. Verbissen von all dem wollte er seine Lage nicht wahrhaben.
Würde er je wieder heimgehen können? Würde er jemals wieder seine Tante umarmen können?
Der Matrose bemerkte seine trostlosen Kameraden, wie sie Löcher in die Luft starrten. Nicht einmal der Kapitän hatte ein Funken Hoffnung in seinen Augen. Die erdrückende Stille schnürte Colin den Hals.
Plötzlich erschien Hiroto in seinem Blickfeld und schaute auf seinen im Sand liegenden Freund herab.
„Im Großen und Ganzen sind wir also ganz typisch auf einer Insel gelandet, die vermutlich einsam ist. Müssen wir jetzt auch noch verhungern, um die Geschichte fertigzuschreiben?“
Colin antwortete ihm nicht sofort. Würden sie wirklich sterben müssen? Er durfte das Schicksal nicht mit seinem Leben spielen lassen. Seufzend hievte sich der Matrose auf die Beine und klopfte sich den Sand ab.
„Wir werden eine bessere Geschichte schreiben.“ Er schaute in Hirotos Augen und konnte nur noch Trauer und Zweifel erkennen. Es schmerzte ihn im Herzen, den Jüngeren so sehen zu müssen.
„Du hast dich verändert, Colin“, flüsterte der Japaner leise, doch Besagter konnte ihn trotzdem hören.
Fragend zog Colin die Augenbrauen hoch, doch Hiroto verlor sich schon in seinen Gedanken. Er dachte daran, wie sein Freund noch kalt und abweisend gewesen war. Doch jetzt steckte in ihm jede Menge Hoffnung und Entschlossenheit. Grübelnd beobachtete er, wie Colin über den Sand lief und sich vor den anderen hinstellte. Seinen Rücken hatte er dem Meer gekehrt.
„Matrosen!“, begann er, um die Aufmerksamkeit der erschöpften Männer auf sich zu ziehen. „Unsere missliche Lage raubt jedem von uns den letzten Nerv. Johnnys Tod nagt an uns. Doch er bleibt für immer in unseren Herzen.“
Colin schenkte Hiroto einen Blick, der wieder Tränen in den Augen hatte. Der Verlust seines Freundes machte ihm wirklich zu schaffen.
„Dass wir unseren Schiff und somit die Hoffnung verloren haben, bedeutet nur eins: Neustart!“, fuhr Colin mit lauter, fester Stimme fort. „Alleine sind wir wie Wassertropfen. Doch zusammen bilden wir ein Meer! Wir werden nach Hause zurückkehren und unseren Familien mit Stolz von unserer Reise erzählen. Denkt dran Matrosen: Auf den Regen folgt die Sonne.“
In diesem Moment lösten sich die düsteren Wolken auf und die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages fielen auf den Rücken des jungen Matrosen.
Douaa Malahefji, J1 (Schuljahr 2023/2024)