Als es erneut zur nächsten Stunde läutete und wir bei Frau Möck Mathe hatten, dauerte es lange, bis die Klassenlehrerin der Neuner uns alle beruhigt hatte und wir endlich an unseren Plätzen saßen. Sie war nicht besonders groß, sehr nett und besaß lange blonde Haare, die sie meisten zu einem Zopf geflochten hatte.
Als sie durch die Reihen ging, um die Hausaufgaben zu kontrollieren, blieb sie bei Basti stehen und musterte ihn von oben bis unten. Dann lächelte sie ihn an und stellte sich vor: „Ein neues Gesicht in der Klasse? Wie schön! Vielleicht kommt jetzt mal ein bisschen mehr Ruhe in diesen verrückten Haufen. Ich heiße Lea Möck und unterrichte die Schüler in Mathe, Geschichte und Erdkunde. Und wer bist du?“
Basti musste grinsen: „Ich heiße Sebastian und unterrichte die Lehrer in Manieren, Benehmen und guten Lehrer-Witzen.“
„Er lernt schnell, müssen sie wissen“, fügte Christoph mit einem stolzen Grinsen hinzu.
Die beiden schlugen sich ab.
Frau Möck zog die Augenbrauen hoch: Das war´s dann wohl mit der neu erhofften Ruhe.
Nach zwei qualvollen Stunden Mathe, die durch ein paar lustige Kommentare ganz erträglich waren, hatten wir noch zwei Stunden Religion bei Frau Stelzen. Sie war eine der nettesten Lehrerinnen der Schule und ausgerechnet Leopolds Mutter. Die zwei waren das Maximum an Gegenteil, zumindest was den Charakter angeht. So wie ein Reh und ein Stier. Nur durch ihr Aussehen konnte man erkennen, dass sie Mutter und Sohn waren. Beide waren schlank, hatten eine durchschnittliche Größe und dünne, braune Haare sowie hellbraune Augen.
Auch Frau Stelzen begrüßte Basti mit einem Lächeln. Als es dann endlich zum Schulschluss läutete, packten wir, so schnell es ging, unsere Sachen zusammen, während die Lehrerin unsere Hausaufgaben an die Tafel schrieb.
Kurz bevor ich zusammen mit Tami das Klassenzimmer verließ, zischte ich Timo noch schnell zu: „Heute um 15 Uhr im Wobaha. Sag den anderen Bescheid. Aber erzähl Basti erstmal nichts.“
Kurz zögerte er und guckte mich fragend an, dann nickte er und fügte leise hinzu: „Wer aufgenommen wird, müssen wir zusammen entscheiden.“ Er drehte sich um und ging zurück zu den anderen Jungen, die sich mal wieder über Fußball unterhielten und immer noch ihre Sachen zusammenpackten.
Als Tami und ich aus dem alten Schulgebäude gingen, hörten wir, wie hinter uns unsere Namen gerufen wurden. Ruckartig drehte ich mich um und erkannte in den überfüllten Gängen Myriam und Renee, die sich mühsam einen Weg durch das große Gedränge bahnten. Im Moment war es schwierig stehenzubleiben, da alle so schnell wie möglich aus dem Schulgebäude fliehen und ihren freien Dienstagnachmittag genießen wollten, also warteten Tami und ich vor den großen Eingangstüren unserer Schule. Als die meisten unserer Mitschüler an uns vorbeigelaufen waren, entdeckten wir Renee und Myriam, die auf uns zu eilten.
„Timo hat erzählt, wir treffen uns nachher im Wobaha. Ihr wollt besprechen, was wir gegen die Diebe unternehmen können, oder? Wir kommen natürlich auch!“, plapperte Renee sofort los, als die beiden uns erreicht hatten. „Habt ihr schon irgendeine Idee?“, fügte Myriam schnell hinzu. „Also ich meine, gegen diese Diebe. Das ist ja so was von uncool, einfach etwas zu klauen, sie hätten sich den Brief auch einfach ausleihen können.“
„Ne, deswegen wollten wir uns ja treffen und vielleicht hat ja irgendjemand von uns in der Zwischenzeit einen Geistesblitz“, antwortete ich und Tami ergänzte: „Ja, das mit dem Klauen finden wir auch echt uncool. Aber um ein Buch auszuleihen, braucht man eine Büchereikarte, und dann ist automatisch die Adresse der Diebe in dem Computer der Bücherei gespeichert. Und wer weiß, was die mit dem Brief vorhaben. Wahrscheinlich wäre es am Schluss Sachbeschädigung gewesen und dann hätten die sicher ziemlich viel Ärger bekommen, weil man ja den Namen und die Adresse gewusst hätte.“
„Hm, stimmt. Dann war das wohl die deutlich einfachere Variante, den Brief einfach zu stehlen“, gab Myriam nachdenklich zu.
Zu viert liefen wir zu den Fahrradständern, die auf der rechten Seite der großen Eingangstüren angebracht an einer der Schlossmauern standen.
Der Innenhof, der uns gleichzeitig auch als Pausenhof diente, wurde auf drei der vier Seiten von hohen, beigen Backsteingebäuden umschlossen, die über zwei Eckgebäude miteinander verbunden waren. Sie besaßen alle ein dunkelrotes Dach, das sich auf den Seiten nach unten senkte und durch die Sonne schon sehr ausgeblichen war.
Das Hauptgebäude stand in der Mitte und war etwas größer als der Ost- und Westflügel. Eine große, dunkle, stabile Tür, die in der Mitte in zwei Hälften geteilt war und oben zu einer stumpfen Spitze zusammenlief, zierte den Eingang – wie bei einer mittelalterlichen Burg. Große Fenster an allen Wänden verliehen dem alten Schloss einen gemütlichen und hübschen Ausdruck.
Auf der noch freien Seite gab es eine Mauer, die in dem gleichen Stil des Gebäudes gebaut worden und genauso so hoch wie der Ost- und Westflügel war. Jedoch war sie nicht begehbar und besaß auch keine Fenster. Verziert war sie einzig und allein durch ein Dach, das in das Dach des Gebäudes überlief, und ein riesiges Eingangstor in der Mitte, welches den Weg auf den Innenhof freigab.
„Habt ihr heute noch was vor, bevor wir uns im Wobaha treffen? Ich hätte mal wieder Lust, mit euch Eis essen zu gehen“, unterbrach plötzlich Tamis Stimme meine Gedanken, als wir gerade dabei waren, unsere Fahrradschlösser aufzuschließen.
„Super Idee! Also ich bin dabei!“, rief Renee während Myriam und ich begeistert nickten. „Wir haben jetzt kurz vor eins. Wie wär´s: Wir treffen uns dann um 14 Uhr bei Mario in der Eisdiele?“, schlug ich vor und gleich darauf war der Vorschlag einstimmig angenommen. Myriam und Renee stiegen auf ihre Räder und holperten über das Kopfsteinpflaster unseres Pausenhofes bis zum großen Eingangstor. Kurz drehten sie sich noch um und riefen ein: „Also bis später“, dann hatten sie auch schon das Tor erreicht und verschwanden dahinter.
Während auch Tami und ich auf unsere Fahrräder stiegen, fing meine Freundin plötzlich an zu zweifeln: „Denkst du das Treffen wird was bringen? Ich mein, vielleicht sind die Typen auch schon über alle Berge und wir haben keine Chance mehr, die zu fassen. Und überhaupt: Wahrscheinlich ist der Brief gar nicht so wertvoll oder so und Herr Blumhardt hat recht. Frau Brauchler ist echt nicht mehr die Jüngste, da hat sie vielleicht den Brief mit einem anderen Dokument verwechselt, das wirklich wertvoll ist. Ich mein, ein Brief? Was soll an dem so wichtig sein?“ Mitten in der Bewegung, als ich mich gerade auf mein Rad setzte, hielt ich inne und blickte sie entsetzt an: „Das meinst du jetzt nicht ernst, oder? Selbst wenn der Brief nicht wertvoll sein sollte, werden wir diese Vollpfosten schnappen! Denn erstens klaut man keine Sachen, egal ob sie wichtig sind oder nicht, und zweitens steckt man keine Menschen, besonders nicht unschuldige Kinder, in Mülltonnen. Und erst recht nicht meine beste Freundin! Kapiert?“
Tami nickte und musste lächeln.
„Gut!“, fuhr ich bestimmt fort. Diesmal aber auch mit einem breiten Lächeln im Gesicht, „Vielleicht hat ja wirklich von uns einer in der Zwischenzeit noch eine gute Idee oder zumindest den Ansatz zu einer Idee. Und wenn nicht, fällt uns bestimmt trotzdem noch was ein, was wir unternehmen können. Oder wir finden noch jemand Erwachsenes, der uns glauben wird und uns helfen kann“, beendete ich meinen Bericht.
Dann holperten auch wir über die Kopfsteinpflastersteine und unter dem Eingangsbogen hindurch, auf die Straße, die uns runter zum Tal führte.
FORTSETZUNG FOLGT
Hannah Bayer, 7d (Schuljahr 2022/2023)