Und ganz plötzlich hörte sie noch ein Geräusch. Doch dieses Mal war es kein Schreien einer Frau oder das Geräusch von Mopeds. Dieses Mal war es leiser. Viel leiser. Tami wusste zwar nicht, was es war, doch als sie realisierte, dass es sich um einen Menschen handeln könnte, fing dieses Mal sie an, wie eine Verrückte zu schreien: „Hallo? Ist da wer? Ich brauche Hilfe! Hier, in der schwarzen Mülltonne! Bitte! Hilfe! Bitte hilf mir!“
Das Geräusch verstummte.
Einen kurzen Moment glaubte Tami, dass es einfach schon wieder zu weit weg war und sie nicht gehört hatte. Doch dann vernahm sie Schritte, die näher kamen. Tami seufzte.
Zwar war sie immer noch nicht befreit und die unbekannte Person hatte nicht den Schlüssel, aber sie wusste jetzt, dass sie nicht mehr alleine war und dass jemand ihren Aufenthaltsort kannte. Er könnte Hilfe holen und gemeinsam würden sie sie da bestimmt wieder herausholen.
Plötzlich sprach die unbekannte Person etwas ängstlich: „Eh h…hallo? W…wer ist d…da?“
Tami antwortete erleichtert: „Hallo! Ich bin hier in der Mülltonne eingesperrt. Kannst du mich bitte irgendwie befreien oder Hilfe holen?“
„Tamara? Bist du das?“, fragte der Jemand sehr erstaunt.
Tami verstummte erschrocken. Woher kannte die unbekannte Person ihren Namen? Und kannte Tami diesen Jemand auch?
Plötzlich war die Stimme wieder zu hören: „Äh, Hallo? Tamara?“
Doch Tami antwortete nicht, so viel Angst hatte sie vor der Person bekommen, die sich jetzt wohl sicher war, dass die Person in der Mülltonne Tami war.
Also versuchte es der Unbekannte noch einmal: „Also, wenn du doch nicht Tamara heißt, dann tut mir die Verwechslung echt leid, aber bitte sag doch was. Ich muss jetzt echt in die Schule, aber ich kann dich ja nicht hier eingesperrt lassen, also bitte rede doch mit mir.“
Tami erwachte aus ihrer Starre, als sie merkte, dass das hier ihre einzige Chance war, aus der Tonne zu entkommen. Schnell rief sie: „Warte! Ich bin Tamara! Aber woher kennst du meinen Namen und wer bist du?“
Kurz wurde es still.
Dann sagte die unbekannte Person: „Jan, der Streber aus deiner Klasse.“
Tami musste Schmunzeln. Das stimmte, Jan war wirklich der größte Streber, den sie kannte. Doch ein sehr, sehr lieber und netter Streber. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
Warum hatte sie ihn nur nicht erkannt?
Ein langer Seufzer entfuhr ihr, doch dann schob sie den Gedanken schnell auf die Seite und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. „Hast du irgendeine Idee, wie ich hier rauskomme?“
Jan überlegte und suchte den Boden ab. Währenddessen erzählte Tami, wie sie in die Tonne gekommen war.
Plötzlich unterbrach sie Jan: „Ich hab was! Hier liegt ein Schlüssel, könnte er zur Mülltonne gehören? Du hast doch gesagt, dass die Typen, die dich hier eingesperrt haben, nicht die Hellsten waren, da kann es ja gut sein, dass sie den Schlüssel hier einfach verloren haben.“ Man hörte, wie Jan sich bückte und etwas aufhob. Dann kam er in Richtung Tami und steckte etwas in das Schloss. Es machte ein KLICK und schon wickelte Jan die schwere Kette ab, die um die Tonne gewickelt war.
Dann schob er langsam den Deckel auf.
Tami schnappte nach frischer Luft. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so über die Strahlen der Sonne gefreut. Doch schnell schloss sie die Augen, da die Sonne so hell im Gegensatz zum Inneren der alten Mülltonne war und das helle Licht sie blendete. Trotzdem lächelte sie erleichtert und stieg langsam aus der Tonne. Als sie endlich wieder auf ihren wackeligen Beinen stand und festen Boden unter den Füßen hatte, umarmte sie Jan vor lauter Dankbarkeit und Erleichterung.
Jan erkundigte sich, ob bei Tami auch alles in Ordnung sei.
„Ja, ja, alles ok. Aber schau mal, wie ich aussehe! Mit den aufgeschlagenem Knie und den dreckig-stinkenden Klamotten kann ich unmöglich in die Schule. Ich werde nun langsam nach Hause radeln. Bitte erzähle nichts in der Schule.“
Jan nickte und fragte: „Soll ich dich begleiten?“
„Nein danke“, erwiderte Tami, „du hast schon genug für mich getan.“
Jan lächelte, drehte sich um, stieg auf sein Rad und trat etwas schneller in die Pedale als sonst, damit er nicht zu spät zur Schule kam.
Auch Tami machte sich auf den Heimweg, jedoch in langsamerem Tempo.
Zuhause angekommen, klingelte sie und ihre Mutter öffnete die Tür.
Mit großen Augen starrte sie Tamis Zustand an und fragte erschrocken: „Oh meine Güte, was ist denn mit dir passiert?“
„Keine Sorge Mami, nichts Schlimmes, ich bin nur mit dem Rad über eine Wurzel gefahren und dabei unglücklich gestürzt.“
Sie wollte ihre Mutter nicht die Wahrheit sagen, da sie sie nicht unnötig mit Sorgen belasten wollte. Gut fühlte Tami sich mit ihrem Geheimnis jedoch auch nicht.
FORTSETZUNG FOLGT
Hannah Bayer, 6d (Schuljahr 2021/22)