Doch drei Straßen weiter hielt sie wieder an. Schnell stieg sie von ihrem Rad und versteckte sich hinter der nächstbesten Mülltonne. Sie hielt die Luft an und lauschte.
Genau rechtzeitig konnte sie sich noch verstecken. Denn nun hörte man es laut und deutlich. Zwei Mopeds fuhren um die Ecke und hielten kurz vor Tamis Versteck an. Dann hörte man zwei Stimmen, die sich über etwas stritten. Über einen Brief. Mehr konnte Tami leider nicht verstehen. Aber das war gar nicht das Problem. Denn plötzlich rollte die Mülltonne, hinter der sie sich versteckte hatte, nach links weg und man konnte ein mittelgroßes, hübsches Mädchen mit zwei dunkelblonden Zöpfen, einer knielangen Jeanshose und einem hellgrünen T-Shirt erkennen, die sich, so stark es ging, an die Wand hinter sich presste. Sie lächelte die zwei schwarzgekleideten Personen ängstlich an.
Doch es dauerte einige Momente, bis erst die eine Person und kurz darauf die andere aufhörten zu reden und das 13-jährige Mädchen anstarrten. „Wen haben wir denn da?“ Dann gingen sie langsam auf Tami zu, zogen sie unsanft auf die Beine und nahmen sie in ihre Mitte. Die eine Person (der Größe nach vermutlich der Mann) packte sie an den Oberarmen und hielt sie gewaltvoll fest, während die andere (es könnte der Stimme nach eine Frau sein) Tamis Schultasche aufhob und den gesamten Inhalt auf den Boden schüttete. Sie kniete sich hin und durchwühlte Tamis Sachen. Der wurde es so langsam zu bunt: „Das dürfen Sie gar nicht! Lassen Sie sofort meine Sachen in Ruhe! Und Sie! Lassen Sie mich los! Das ist Belästigung! Und Körperverletzung! Wenn Sie mich nicht sofort in Ruhe lassen, dann schreie ich!“
Doch der Mann lächelte nur wenig beeindruckt und die Frau verdrehte die Augen. Zwar hatten sie sich Kopftücher, ebenfalls schwarz, übers Gesicht gestreift und nur für den Mund und die Augen kleine Schlitze hineingeritzt, doch trotzdem konnte man jedes Zucken unter der Maske genau erkennen, da diese nicht sonderlich dick war.
Kurze Zeit später stand sie wieder auf und schüttelte den Kopf: „Ne, da ist nichts Brauchbares drin.“ Dann wandte sie sich an Tami: „Erstens kannst du uns duzen, denn so alt sind wir gar nicht, zweitens kannst du so viel schreien wie du willst, hier hört dich eh niemand, und drittens hast du uns doch belauscht. Oder seit wann versteckt man sich hinter Mülltonnen?“ Tami antwortete nicht. Sie konzentrierte sich auf die Stimme der Frau, denn irgendwoher kannte sie diese.
Plötzlich sprach der Mann: „Gut, wenn du nicht deinen Mund aufmachst, laufen lassen tun wir dich nun ganz bestimmt nicht mehr. Mal schauen: In der Mülltonne ist bestimmt noch Platz!“ Dann hob er Tami hoch, während die Frau nickte und die Mülltonne aufmachte, und ließ sie genau über dieser wieder los. Tami fiel zum Glück nicht hart, denn die Müllsäcke unter ihr waren weich. Doch ihr rechtes Knie traf auf etwas Spitzes und sie merkte, wie es anfing, zu bluten. Zu allem Überfluss platzte beim Aufprall auch noch einer der Müllsäcke auf und Lebensmittel wie Bananenschalen, alte Spaghetti und die leere Verpackung eines Joghurts quollen aus ihm heraus. Dann wurde der Deckel der Mülltonne mit einem Ruck zugestoßen und um Tami herum wurde es stockfinster.
Sie hörte wie ein Schloss verschlossen wurde und zwei Mopeds mit einem lauten Knattern davonfuhren.
Ein paar Minuten vergingen, doch für Tami fühlte es sich wie Stunden an. Es stank fürchterlich in der Mülltonne und kein einziger Lichtstrahl der Sonne drang zu ihr durch. Sie zitterte am ganzen Körper und nicht einmal ihre Beine konnte sie in der engen Tonne ausstrecken. Langsam fing sie an zu weinen. Die Gangster hatten recht: So gut wie nie kam hier jemand vorbei und die meisten Häuser standen leer oder wurden gerade neu renoviert. Doch heute war Freitag und deswegen hatten alle Bauarbeiter frei. In den wenigen, gerade noch bewohnten Häusern wohnten Senioren. Deswegen nannte man diesen kleinen Teil von Schornstadt auch Seniorenviertel. Diese konnten zum Großteil nicht mehr richtig sehen oder hören – und schon gar nicht würden sie kapieren, dass da jemand in der Mülltonne steckt.
Also was sollte Tami bloß tun? Das Einzige, was ihr blieb, war abwarten. Und nicht einmal etwas zu Essen oder Trinken hatte sie, abgesehen davon, dass sie sich aus Abfällen aus der Tonne ernähren könnte. Aber ob das lecker wäre? Ihre Schultasche lag noch vor der Mülltonne, wo die eine schwarze Person sie hingeworfen hatte, nachdem sie diese durchwühlt hatte. Dort wären wenigstens ein Pausenbrot und eine Wasserflasche drin gewesen. Doch Tami saß immer noch in dieser blöden Tonne fest und hatte keine Chance, irgendwie an ihre Tasche zukommen. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und erinnerte sich noch einmal an alles, was bisher passiert war. Da waren Frau Brauchler und ihr Geschrei, der Brief, ihre Erzählung und die schwarzen Personen, die weggerannt waren. Dann die Moped-Geräusche und die Mülltonne, in der sie jetzt festsaß. Das fiese Grinsen der schwarzen Personen, als sie Tami entdeckt hatten und dann noch das Durchwühlen ihrer Schultasche. Doch irgendetwas sehr Wichtiges hatte sie vergessen, das wusste Tami genau. Nur sie kam einfach nicht mehr darauf, was es war …
FORTSETZUNG FOLGT
Hannah Bayer, 6d (Schuljahr 2021/22