Langsam trat ich ein und schaute mich um. Alles war wie immer: Es roch wie immer, es sah wie immer aus, ja, man hörte sogar wie immer Tamis Katze schnurren. Frau Ripper bat mich, in Tamaras Zimmer zugehen. Sie hingegen wollte in der Küche ihr Lieblingsessen, Linsen mit Spätzle, kochen und bot an, meine Eltern anzurufen und zu fragen, ob ich mitessen darf. Ich wunderte mich darüber, da Frau Ripper sonst nie Gäste zum Essen da haben wollte, dennoch sagte ich glücklich ja und suchte Tamis Zimmer auf. Als ich den Flur entlang ging, konnte ich schon von weitem den Namen „Tamara“ an der hintersten Tür des Ganges lesen, der mit grüner Farbe auf die Tür geschrieben war.
Als ich direkt vor ihr stand, leuchteten die Farben grell im Sonnenlicht, das durch das große Fenster neben der Tür schien.
Ich wartete einige Sekunden, dann holte ich tief Luft und drückte die Klinke runter.
Tamara Ripper saß auf ihrem Bett und las in einem Buch. Langsam kam ich herein und begrüßte sie mit einem schüchternen: „Hi“. Sie hob den Kopf, sah mich an und lächelte erleichtert. „Hi.“ Schnell klappte sie ihr Buch zu und legte es zur Seite. Dann sprang sie auf und nahm mich in den Arm. „Ich bin so froh, dass du da bist! Du glaubst nicht, was ich dir zu erzählen habe. Aber setz dich erst mal.“ Sie zog mich auf ihr Bett und wir machten es uns gemütlich. „Also“, fing sie geheimnisvoll an, „heute Morgen, als ich in die Schule bin, ist mir etwas Aufregendes passiert.“ Sie erzählte und erzählte und ich konnte kaum glauben, was sie da sagte. „Echt?“ und „Das glaub ich nicht!“ waren meine Kommentare. Plötzlich schrie Frau Ripper nach uns. Aber nur zum Mittagessen. Ich hatte mich ganz schön erschreckt, sagte aber kein Wort und ging artig in die Küche. Das Mittagessen war lecker, aber nach der Geschichte, die mir Tami vorhin erzählt hatte, hatte ich gar keinen Hunger mehr. Dauernd musste ich an ihren letzten Satz denken, den sie zu mir gesagt hatte: „Wir müssen diese Schweine kriegen!“
Aber erst mal von vorne. Ich habe ja schon erwähnt, dass Tami mir etwas Krasses erzählt hat. Aber was? Ja, das war so:
Als Erstes muss man wissen, dass Schornstadt ein sehr kleiner Ort mit nur ca. 280 Einwohnern ist. Es gibt eine Eisdiele, mit dem besten Eis der Welt, einen kleinen Supermarkt, dort findet man alles Nötige, eine Schule namens Schloss Plankenstein, einen Spielplatz, jede Menge Einfamilienhäuser und eine Bibliothek, in der alle möglichen Bücher stehen. Und genau darum ging es hier auch.
Als Tami heute Morgen mit dem Rad in die Schule fahren wollte, hörte sie ein lautes, wütendes Schreien. Natürlich stoppte sie sofort und schaute sich aufmerksam um. Es kam von der Bibliotheksbesitzerin Frau Brauchler. Sie war schon etwas älter, hatte kurze blonde Haare, ein weißes Kleid mit rosa Blumen an, lebte alleine und war die Fröhlichkeit in Person. Umso mehr wunderte sich Tami, dass sie wie eine Verrückte zwei Personen mit schwarzen Hosen, schwarzen Jacken und schwarzen Stiefeln hinterherrief. Eine von ihnen drehte sich um, lächelte böse und rannte der anderen Person hinterher. Sie stiegen auf ihre Mopeds, die ein Stück weiter weg an einer Hauswand standen, zogen sich zwei schwarze Motoradhelme auf, gaben Gas und waren im Nu weg. Als sie außer Sichtweite waren, drehte sich auch Frau Brauchler um, lächelte Tami zaghaft an und ging zurück in ihre Bücherei.
Doch so leicht wollte Tami das nicht einfach vergessen. Sie stieg von ihrem Rad, lehnte es an die weiße Wand gegenüber von der Bibliothek und eilte Frau Brauchler nach.
Als sie das alte Gebäude betrat, roch es modrig und es war mucksmäuschenstill. Nur die Türglocke gab ein leises „Ding-Dong“ von sich. Doch Frau Brauchler hörte das nicht. Sie war gerade dabei in alten, verstaubten Kisten nach etwas zu suchen. Immer wieder hörte man ein Seufzen oder Stöhnen von ihr. Nach einer Weile sah es so aus, als ob sie aufgeben würde. Sie setzte sich auf einen alten Holzstuhl, vergrub das Gesicht in ihren Händen und nuschelte leise vor sich hin: „Das gibt es doch nicht! Das kann doch alles nicht wahr sein!“ Plötzlich schaute sie auf. Ganz traurig und doch auch leicht verärgert blickte sie zu Tami. Die kam nun herein, holte sich auch einen Stuhl und setzte sich neben Frau Brauchler. Neugierig, aber auch nicht zu aufdringlich, bat sie diese zu erzählen, was passiert war. Frau Brauchler berichtete mit einer verzweifelten Stimme, dass zwei Personen (der Stimme nach mindestens ein Mann) da gewesen waren und sich einfach ein bisschen umgucken wollten. Besonders aber wollten sie wissen, wo es denn die Bücher von dem Physiker Max Planck geben würde. Nach einer halben Stunde hatte Frau Brauchler immer noch nichts von ihnen gehört und wollte mal nachschauen, ob alles in Ordnung war. Als sie den großen Raum betrat, sah sie niemanden. Also schaute sie in der Physikabteilung nach, in der alle Bücher und Urkunden von Max Planck aufbewahrt wurden. Dort fand sie sie schließlich auch. Und zum Glück kam sie genau im richtigen Moment. Frau Brauchler ertappte gerade einen der beiden, wie er einen alten Brief aus einem Buch über Quantentheorie in seine Jackentasche schob. Als Frau Brauchler sich, nachdem sie das gesehen hatte, lautstark räusperte, zuckten sie erschrocken zusammen und lächelten sie ertappt an. Dann schaute einer von ihnen nach oben und machte große Augen, während der andere mit dem Finger an die Deckenwand gezeigt hatte. Natürlich folgte Frau Brauchler seinem Finger und starrte ins Nichts. Plötzlich rannten die schwarz-gekleideten Personen weg, einmal raus aus der Bibliothek und streckten der armen Frau die Zunge raus, während sie sich schadenfroh umdrehten.
„Und den Rest kennst du ja selber“, beendete Frau Brauchler ihre Geschichte. Tami machte große Augen, denn etwas zu klauen, geht ja wohl mal gar nicht. Auch nicht, wenn es nur so ein alter Brief von irgendeinem durchgeknallten Professor oder Physiker war. Also fragte sie Frau Brauchler nachdenklich: „War das denn etwas Wertvolles? Ich meine, wer interessiert sich den für einen so alten Brief? Und haben Sie die zwei Personen schon einmal irgendwo gesehen? Schornstadt ist ja nicht wirklich groß, da läuft man sich schon mal öfter über den Weg.“ „Du weißt doch, dass ich mir Gesichter und Namen nicht sonderlich gut merken kann. Ich bin nicht mehr die Jüngste und habe meine besten Tage nun schon einmal hinter mir. Und wegen des Briefs: Nun, er ist nicht wirklich wertvoll. Zumindest noch nicht. Wenn ihn aber jemand entschlüsseln würde, oh nein, daran will ich am liebsten gar nicht denken“, antwortete Frau Brauchler besorgt. „Aber …“ Tami schaute auf ihre Uhr und stellte entsetzt fest, dass es schon kurz vor 8 Uhr war. Sie musste jetzt echt in die Pedale treten, um nicht zu spät zu kommen. Also verabschiedete sie sich mit einem kurzen „Sorry Frau Brauchler, aber gleich beginnt der Unterricht und ich möchte nicht zu spät kommen. Ich schau bestimmt demnächst bei ihnen vorbei. Einen schönen Tag noch und auf Wiedersehen!“, rannte aus der Bibliothek, stieg auf ihr Fahrrad und radelte, so schnell sie konnte, die Straße entlang, geradewegs auf Schloss Plankenstein zu.
FORTSETZUNG FOLGT
Hannah Bayer, 6d (Schuljahr 2021/22)